Blue Velvet




Technisches
Land
 
USA
Jahr
 
1986
Länge
 
120 min. (3292 m)
Farbe
 
color
Tonverfahren
 
Dolby
Format
 
35 mm (2.35:1,
   
J-D-C Scope)
Krimi
Thriller
Erotik


Regie   David Lynch
Drehbuch   David Lynch
Kamera   Frederick Elmes
Spezialeffekte   Greg Hull, George Hill
Schnitt   Duwayne Dunham
Musik   Angelo Badalamenti
Ton   Ann Kroeber (Aufnahme), Richard Hyams,
    Rob Fruchtman, Pat Jackson (Schnitt),
    Alan Spled (Design)
Prod.-Design   Patricia Norris
Bauten   Edward LeViseur
Kostüme   Henry Earl Lewis
Maske   Jeff Goodwin, Dean Jones, Barbara Page
Stunts   Richard Langdon
Produktion   Fred Caruso für DeLaurentis Entertainment
Verleih   Concorde, VCL-Virgin (Video)


Kinostart
USA
  12.09.1986, Toronto Film Festival
D
  25.10.1986 (Kinostart: 12.02.1987)
       
Videostart
D
  31.08.1987
       
DVD
USA
  25.04.2000 (MGM)
USA
  04.06.2002 (MGM, Special Edition)
D
  01.06.2001 (MGM)
D
  26.09.2002 (MGM, Special Edition)
D
  27.04.2004 (MGM, Gold Edition)


 
USA
  8551000 $
 
D
 
3065138 €, 646966 Zuschauer


Kyle MacLachlan   (Jeffrey Beaumont)
Isabella Rossellini   (Dorothy Vallens)
Dennis Hopper   (Frank Booth)
Laura Dern   (Sandy Williams)
Hope Lange   (Mrs.Williams)
Dean Stockwell   (Ben)
George Dickerson   (Detective Williams)
Brad Dourif   (Raymond)
Frances Bay   (Tante Barbara)
Jack Harvey   (Mr. Beaumont)


Lumberton, eine von der Holzindustrie lebende amerikanische Kleinstadt. Es ist Sommer, vor einem weißen Staketenzaun blühen die Blumen, in Zeitlupe fährt ein Feuerwehrwagen durch die Straßen, ein Feuerwehrmann winkt freundlich, kleine Schulkinder gehen über die Straße. Im Garten eines Einfamilienhauses sprengt ein älterer Mann den Rasen, drinnen im Haus läuft der Fernseher; auf dem Bildschirm ist ein bedrohlicher Revolver zu sehen. Der Gartenschlauch verwickelt sich im Gebüsch, der Wasserhahn an der Wand ruckelt unter dem entstehenden Überdruck. Plötzlich faßt sich der ältere Mann mit verzerrtem Gesicht an den Hals und stürzt zu Boden, wo er sich in Krämpfen windet und schließlich wie tot daliegt. Ein Hund schnappt nach dem noch immer spritzenden Wasserschlauch, ein Kleinkind sieht dem Gestürzten unbeteiligt zu. Langsam fährt die Kamera durch das dichte Gras bis auf einen undeutlichen Haufen wimmelnder Insekten.

Jeffrey Beaumont, der Sohn des älteren Mannes, kehrt vom College in seine Heimatstadt zurück und besucht seinen schwerkranken Vater im Krankenhaus. Im Krankenhaus bietet sich ihm ein deprimierender Anblick: Der Vater ist unfähig zu sprechen, sein Kopf wurde in ein groteskes Stützkorsett mit Metallstreben eingespannt. Auf dem Rückweg kommt Jeffrey über eine verwilderte Wiese, auf der eine Holzhütte steht. Als er ein paar Kiesel zusammenklaubt, um damit nach der Holzhütte zu werfen, macht er einen ekelerregenden Fund - ein abgeschnittenes Menschenohr, auf dem Ameisen herumwimmeln. Jeffrey packt das Ohr in eine Papiertüte und bringt es zur örtlichen Polizeistation, wo Inspektor Williams den seltsamen Fall übernimmt. Jeffrey kennt den Polizisten: Er wohnt in der gleichen Vorortgegend wie die Beaumonts, und seine blonde Tochter Sandy besucht dieselbe High School wie Jeffrey. Systematisch sucht die Polizei die verwilderte Wiese ab, kann aber keine weiteren Hinweise finden. Am Abend besucht Jeffrey Inspektor Williams in seinem Haus, weil ihm die Sache keine Ruhe läßt. Williams ermahnt den Jungen dringend, sich aus den Recherchen der Polizei herauszuhalten und niemandem etwas von seinem bizarren Fund zu erzählen. Auf dem Nachhauseweg trifft Jeffrey Sandy und unterhält sich mit ihr. Sandy hat zufälligerweise von ihrem Vater gehört, daß die Nachtclubsängerin Dorothy Vallens, die in einem Appartementhaus nahe der Fundstelle des Ohrs wohnt, in den Fall verwickelt sein soll. Der beunruhigte Jeffrey beschließt, die Wohnung der geheimnisvollen Verdächtigen zu untersuchen; widerstrebend erklärt sich Sandy bereit, ihm dabei zu helfen. Am nächsten Tag holt Jeffrey Sandy nach der Schule ab und fährt mit ihr zu dem Appartementhaus. Jeffrey, der sich aus dem Eisenwarengeschäft seines Vaters ein Sprühgerät für Insektenvertilgungsmittel besorgt hat, will sich als Kammerjäger Zugang zur Wohnung der Sängerin verschaffen. Tatsächlich läßt ihn Dorothy, eine außergewöhnlich attraktive, aber unnahbare Frau, in ihr Appartement. Da betritt auf einmal ein dicker Mann in einem auffälligen, gelben Jackett die Wohnung und flüstert aufgeregt mit Dorothy. In einem unbeobachteten Augenblick kann Jeffrey dabei die Wohnungsschlüssel, die er unter einem Bord in der Küche findet, an sich bringen Am Abend, während Dorothy Vallens in einem Nachtclub auftritt, untersucht Jeffrey das Appartement genauer; Sandy will ihn mit einem Hupsignal warnen, sollte die Sängerin unerwartet zurückkehren. Als er gerade die Toilette benutzt überhört er Sandys Warnsignal. Im letzten Augenblick kann er sich in einen Wandschrank flüchten, als Dorothy in ihre Wohnung zurückkehrt. Sie zieht sich aus und nimmt ein mysteriöses Telefongespräch entgegen; es scheint, als habe irgend jemand Dorothys Ehemann und Kind in seiner Gewalt. Durch ein Geräusch verrät sich Jeffrey, die erschrockene Dorothy zwingt ihn daraufhin mit vorgehaltenem Messer, aus dem Schrank herauszukommen und sich auszuziehen. Zärtlich umlaßt sie ihn; fast schlafen beide miteinander. Da klopft es an die Tür Jeffrey muß erneut im Schrank verschwinden. Frank Booth, der Besucher, entpuppt sich als Psychopath, der Dorothy zunächst übel beschimpft, dann aus einer vor das Gesicht gepreßten Atemmaske Gas inhaliert um sich in Stimmung zu bringen, sie schließlich knebelt und auf dem Fußboden vergewaltigt, bevor er die Wohnung wieder verläßt. Aus dem Gespräch der beiden schließt Jeffrey, daß Frank Booth, so nennt sich der Fremde, offensichtlich Dorothys Mann und Kind als Geisel genommen hat, um Dorothy auf diese Art mißbrauchen zu können. Aus irgendwelchen Gründen kann Dorothy nicht mit der Hilfe der Polizei rechnen. Jeffrey verläßt die Wohnung, verspricht aber wiederzukommen. Trotz Sandys Vorwürfen kehrt er am nächsten Tag zu der Sängerin zurück und schläft mit ihr; sie verlangt dabei von ihm, daß er sie schlagen soll. Jeffrey weigert sich zunächst, langt dann aber doch hart zu. Gleichzeitig nimmt er die Verfolgung von Frank Booth auf, der offensichtlich in dunkle Geschäfte verwickelt ist: Dabei beobachtet Jeffrey auch wieder den dicken Mann in der gelben Jacke, der sich mit einem elegant gekleideten Herrn mit einer Krokodilledertasche trifft. Beide scheinen an dem grauenhaften Mord an einem Rauschgifthändler in der Nähe beteiligt gewesen zu sein. Sandy hat sich inzwischen ebenfalls in Jeffrey verliebt, der nun zwischen der Zuneigung zu ihr und seinem obsessiven Verhältnis zu Dorothy Vallens schwankt. Als Jeffrey die Sängerin erneut besucht, taucht auf einmal Frank mit einer Handvoll zwielichtig-sadistischer Freunde auf. Sie zwingen Dorothy und Jeffrey mit Gewalt zu einer Autotour durch die nächtliche Stadt, die schließlich in einem bizarren Bordell endet. Dorothy darf in einem Nebenzimmer ihr Kind besuchen. Danach geht die Fahrt weiter. Auf offenem Feld zerrt Frank Jeffrey endlich aus dem Wagen, küßt ihn und schlägt ihn dann brutal zusammen. Als Jeffrey am nächsten Morgen mit zerschlagenem Gesicht nach Hause kommt, ist er vollkommen verwirrt. Er beschließt, Inspektor Williams von seinen Erlebnissen zu erzählen und ihm die Fotos zu zeigen, die er von Frank und seinen vermutlichen Komplizen gemacht hat. Sandy bittet ihn, auf keinen Fall ihrem Vater gegenüber zu erwähnen, daß sie in den Fall verwickelt ist. Der Polizist hört sich Jeffreys Bericht aufmerksam an und zeigt sich besonders an dem Mann mit dem gelben Jackett interessiert. Am darauffolgenden Tag findet bei einer Freundin Sandys eine Party statt. Jeffrey holt Sandy ab; als sie gerade gehen wollen, erscheint überraschend der Mann in Gelb im Haus der Williams'. Er ist einer von Inspektor Williams' Kollegen. Auf dem Fest selbst finden Jeffrey und Sandy endgültig zueinander. Doch das Liebesglück ist nur von kurzer Dauer. Auf dem Nachhauseweg werden sie von einem anderen Wagen verfolgt - Sandys Ex-Freund will an seinem Nebenbuhler Rache nehmen. Bevor es jedoch dazu kommt, taucht die völlig nackte Dorothy auf; ihr gesamter Körper ist mit Wunden und Brandmalen bedeckt. Jeffrey und die irritierte Sandy bringen die verstörte Frau in das Haus der Williams' und rufen einen Krankenwagen. Als Dorothy Jeffrey eindeutig umarmt, bricht für Sandy eine Welt zusammen. Jeffrey will nun endlich erfahren, was tatsächlich geschehen ist. Noch einmal kehrt er in Dorothys Appartement zurück, wo sich ihm ein entsetzlicher Anblick bietet. Der Mann in Gelb steht mit einer Kopfverletzung blutüberströmt mitten im Raum: ebenso tot wie ein auf einen Stuhl gefesselter zweiter Mann, der augenscheinlich schwer mißhandelt wurde und dem ein Ohr fehlt. Über Funkgerät verständigt Jeffrey Inspektor Williams; als er das düstere Appartementhaus verlassen will, sieht er jedoch den eleganten Mann mit der Krokotasche das Haus betreten. Jeffrey flüchtet sich in Dorothys Wohnung und versteckt sich einmal mehr im Schrank. Der elegante Mann ist niemand anderer als Frank, der gekommen ist, um den lästigen Zeugen Jeffrey umzubringen. Doch der junge Mann kommt dem pathologischen Killer zuvor - mit dem Polizeirevolver des Mannes in Gelb erschießt er Frank in letzter Sekunde. Der Alptraum ist vorbei; sogar Jeffreys Vater ist wieder aus dem Krankenhaus zurück und arbeitet friedlich im Garten. Zusammen mit Sandy beobachtet Jeffrey ein zutrauliches Rotkehlchen, das einen abnorm großen Käfer im Schnabel hält. Ein winkender Feuerwehrmann fährt in Zeitlupe vorbei; vor einem weißen Staketenzaun blühen die Blumen.

 


Die Konzeption der Handlung und erste Drehbuchentwürfe zu Blue Velvet entstanden bereits Mitte der 70er Jahre, als David Lynch gerade an seinem Spielfilmerstling Eraserhead arbeitete. Damals allerdings fand der exzentrische Branchenneuling Lynch keinen Produzenten, der in die Geschichte von der Konfrontation eines jungen Mannes mit der dämonischen Seite der Sexualität Geld investieren wollte. Erst der von Hollywood weitgehend unabhängige italo-amerikanische Produzent Dino de Laurentiis - für den Lynch zuvor den künstlerisch und finanziell unbefriedigenden SF-Großfilm Dune inszeniert hatte - sah in dem Stoff ein kassenträchtiges Potential.

»Der Filmtitel Blue Velvet beruft sich auf den gleichnamigen Song von Bobby Vinton, der wie ein roter Faden die Handlung durchzieht und sogar noch einmal in einer Kurzversion von Isabella Rosselini gesungen wird. Lynch bezeichnete seinen äußerst provozierenden Thriller als ein Eindringen ins Unterbewußtsein. Tatsächlich widerfährt dem pubertierenden Jeffrey (ausgezeichnet gespielt von Kyle MacLachlan) eine Reihe von Begegnungen, die einem sexuellen Alptraum gleichkommen. Die eindeutigen Knabenphantasien werden durch Kastrationsängste gestört, den noch unbekannten Geschlechtsakt muß der Junge in der Situation eines Voyeurs als Mischung aus Vergewaltigung und Sadismus miterleben. Der allmählichen Verstrickung des Helden in einer Welt pervertierter Sehnsüchte entspricht Lynch bezüglich der Kameraführung durch langsam tastende, kreisende Bewegungen. Ein unbequemer und nicht immer schlüssiger Psychothriller, in dem der Regisseur ein entlarvendes Amerika-Bild zeichnet, welches in Lynchs nächstem Film Wild At Heart eine noch krassere Fortsetzung fand.« (Cinema Filmlexikon).

»Schon die allerersten Bilder dieses Films haken sich fest in der Wahrnehmung, lassen den Zuschauer nicht mehr los. Alle Farben erscheinen so unwirklich und intensiv wie unter den letzten Sonnenstrahlen vor einem heftigen Sommergewitter. Eine geschönte, heile Welt, wie sie auf den ersten Color-Fotos der 50er Jahre dargestellt wurde. Selten hat ein Film mit so wenigen Anfangsbildern so exakt und programmatisch die Atmosphäre umrissen, in der seine Handlung angesiedelt ist, wie das David Lynch mit dieser Eingangsequenz von Blue Velvet gelingt. Sein Drehbuch ist Kriminalgeschichte und Entwicklungsroman, erotischer Irrgarten und romantische Lovestory, Thriller und surrealer Bilderbogen in einem. Blue Velvet ist eine phantastische Reise in den Untergrund des bürgerlichen Saubermann-Bewußtseins. Lynch holt sie auf die Leinwand: die Lust am Verderbten, die Gnadenlosigkeit der Gewalt, das hingebungsvolle Schaudern vor der Perversion, die Sehnsucht nach der Leidenschaft. Er zeigt, daß nicht verschwindet, was verdrängt wird, sondern daß es unter der glatten und lebensfroh-faden Oberfläche des geordneten Provinzlebens arbeitet, daß der Glanz nur Lack ist, jedoch jeden Moment bereit, abzuplatzen und das Inferno ungezügelter Triebe freizugeben. Lynch führt die Kehrseite der Medaille Normalität vor. Er tut das ohne moralisch erhobenen Zeigefinger und unternimmt auch keinen Versuch, Widersprüche zu glätten. Tagtraumgleich ziehen seine Bilder vorbei, getrieben von einer fast unschuldigen Schaulust. Blue Velvet entführt den Zuschauer auf eine spielerische Gratwanderung zwischen Realität und Alptraum, die ihn irritiert zurückläßt. Die Idylle, die schließlich den Abgrund lockender Leidenschaften wieder verdeckt, hat unsichtbare Sprünge bekommen.« (Hans-Juergen Fink, Rheinischer Merkur).

Lumberton ist David Lynchs großer Traum, es ist die Inkarnation seiner Kindheit, das perfekte Substrat aller Provinznester, in denen Lynch gewohnt hat. Aber Lumberton ist kein Potemkinsches Dorf, Lumberton hat die Aura des Wirklichen. Er mußte nur geduldig warten, bis sich die Details seiner Geschichte von selbst einstellten, einer Geschichte aus den 80er Jahren im Dekor der 50er, einem Ambiente, das immer mehr zur Chiffre wird für eine vom Gegenwartsdruck befreite Borniertheit, für wohlige Enge und Überschaubarkeit. David Lynch ist mit einem prophetischen Gespür für dieses ferne, eher mentale als jemals reale Refugium geschlagen. Er stellt die Zeit der einfachen Verhältnisse nicht nach, er findet sie vor der Haustür: in einem verschlafenen Kaff, aber auch in Bildern, die die Türen öffnen zu uneingestandenen, aber gleichwohl archaischen Sehnsüchten nach dem kleinstädtischen Garten Eden. Für Lynch ist diese heimliche Heimat jedes Menschen verborgen und gut aufgehoben in eindrucksvollen Postkartenansichten, in hellen, ansprechenden Farben, in der homogen Struktur eines weichen Stoffes: Blue Velvet, blauer Samt. Lumberton ist nicht auf festem Boden gebaut. Unter den saftigen, grünen Wiesen und den knalligen Blumenrabatten wimmelt es von schmutzigern Getier, von Ameisen, die sich selbst des menschlichen Ohrs bemächtigen, das Jeffrey auf freier Flur findet. David Lynch liebt die schöne Oberfläche von Lumberton, obwohl sie und weil sie verlogen ist. Sie verdeckt die Geheimnisse, die dunkle Seite: die Ameisen und die fremden Leidenschaften: Blue Velvet ist ein Film über das Böse in der Idylle und das Idyllische im Bösen. In Blue Velvet vollzieht sich eine Art Erkenntnisprozeß, brutal immer weiter getrieben in ekelhafte Regionen menschlicher Unmenschlichkeit, dessen Schock so nachhallt, daß die zum Schluß wiederhergestellte Ordnung zum Gelächter herausfordert. Grauen und Zweifel verscheuchen jede vorstellbare Normalität. Inmitten der Gewalt- und Vulgärterminologie des Films gibt es eine Schlüsselszene, in der die Sehnsucht nach Erlösung formuliert wird. Jeffrey und Sandy halten mit dem Auto vor einer abendlich erleuchteten Kirche. Jeffrey berichtet (zurückhaltend) über die Erlebnisse in Dorothys Wohnung. Beide beschwören wie hypnotisiert die Faszination des Entsetzlichen: »Es ist eine seltsame Welt.« Und dann erzählt Sandy einen Traum von Rotkehlchen, die das Licht der Liebe auf die dunkle Welt bringen. In der restaurierten Idylle des Schlusses, an die keiner mehr glaubt, hockt ein ausgestopftes Rotkehlchen auf dem Fensterbrett. Es hat einen zappelnden Käfer im Schnabel.

»Ebenso wie Hitchcock legt Lynch keinen besonderen Wert auf die logische Durchführung seines Plots. Immer wieder springt die Handlung, tauchen Figuren wie der überschminkte Dean Stockwell als Bordellchef Ben auf, die für den Fortgang der Handlung ohne Bedeutung sind. Auch das vorgebliche Zentrum der Filmerzählung - die Entführung von Dorothys Mann und Kind - bleibt reichlich unklar und erfährt auch am Ende keine richtige Aufklärung: Worin genau nun die Verbrechen von Frank Booth und dem Mann im gelben Jackett bestanden, wird nicht ausgeführt. Handlung sieht David Lynch im wesentlich nur als Bindeglied zwischen verschiedenen Bildeinfällen. Mit geradezu klinischem Interesse manipuliert der Hitchcockschüler Lynch dabei die Emotionen seiner Zuschauer - bedrohlichste Sequenzen wechseln unversehens mit scheinbar grob aufgetragenem Kitsch ab, etwa jene von satten Orgelklängen untermalte Szene, als Sandy Jeffrey vor einer hell erleuchteten Kirche ihre Vision vom Glück schildert. Was wie eine Ungeschicktheit des Regisseurs wirkt, erweist sich jedoch beim näheren Hinsehen als ausgeklügeltes Spiel mit den Gefühlswerten und -erwartungen des Betrachters. Die Konzeption des Filmemachers läuft darauf hinaus, den Zuschauer eines Thrillers eben nicht nur durch die Undurchschaubaren der Handlung zu irritieren, sondern ihn auch durch unerwartete, gleichwohl stärkste Umschwünge in der Atmosphäre des Films aus dem Stimmungsgleichgewicht zu bringen.« (Hans-Joachim Neumann in: Enzyklopädie des phantastischen Films). »Eine Sache, die mich immer beschäftigt, wenn auch auf erheiternde Weise, ist, daß sich die Zuschauer mit den kitschigen Dingen im Film fast immer unwohler fühlen als mit krankhafter Gewalt. Die Szene mit Sandy und den Rotkehlchen bringt das Publikum in eine Situation, die ihm unangenehm ist. Ich weiß nicht warum, aber Sandys Rede ist last unangenehmer als Franks Besuch bei Dorothy und all die Dinge, die er ihr antut. Da spielt der Magen zwar verrückt und man preßt die Finger zusammen, aber wenn Sandy spricht, dann wird einem heiß und man überlegt sich, ob man lachen soll. Denn wenn man diese Dinge ernst nimmt, dann gesteht man etwas ein. Man schaut sich vorsichtig nach seinem Nachbarn um - irgendwie gerät man in ein Fieber.« (David Lynch).

»Blue Velvet ist zunächst einmal die Geschichte einer sexuellen Initiation. Zur Verdeutlichung des Eintritts in diese Sphäre jenseits der Kindheit bedient sich David Lynch dabei eines Kunstgriffs: die Kamera fährt auf das Ohr zu und scheint durch das Ohrloch hindurchzugehen. Folgerichtig endet der Film auch mit dem nun aus Jeffreys Ohr wieder hervortretenden Kamera. Die metaphorische Bedeutung ist klar: Jeffrey ist in die geheimnisvolle Welt der Sexualität, die ihm als Jugendlicher verborgen war, eingetreten und hat die in dieser Welt gemachten Erfahrungen verinnerlicht, zusammen mit dem Zuschauer verläßt er diese Sphäre wieder. Wie schon in seinem Erstling Eraserhead - mit dem Blue Velvet thematisch und formell mehr Ähnlichkeiten aufweist als mit Der Elefantenmensch oder Dune, die beide eher von der Vorstellbarkeit einer quasi-religiösen Erlösung denn von der Bedrohung durch den Eros handeln - nimmt die Auseinandersetzung mit der Sexualität rasch destruktive, später ins Pathologische gesteigerte Züge an. Im Gegensatz zu dem keine Hoffnung verheißenden Eraserhead aber eröffnet sich Jeffrey am Ende die Möglichkeit, dem selbst ausgelösten Unheil doch noch zu entkommen. Die umdüsterte Schönheit Dorothy Vallens und das sich ganz naiv nach Liebe sehnende High-School-Girl Sandy verkörpern dabei zwei fast diametral entgegengesetzte Prinzipien erotischer Attraktion, denen sich Jeffrey gleichermaßen nicht entziehen kann. Zunächst begegnet er dabei Sandy, ihre Beziehung zueinander bleibt den ganzen Film über nahezu platonisch. Sandy verkörpert den guten Kumpel, den vertrauenswürdigen Partner - in gewissem Sinne das good girl des klassischen Hollywoodkinos. So verläßlich Sandy ist so wenig sexuell interessiert erscheint sie aber auch. So verstanden, stellt Sandy für Jeffrey eine nicht vollwertige Partnerin dar. Tatsächlich kommt auch der erste Hinweis auf noch andere Aspekte des Erotischen - in Gestalt von Dorothy Vallens - von Sandy selbst, als sie Jeffrey von den Nachforschungen ihres Vaters erzählt. Das Zusammentreffen mit Dorothy Vallens konfrontiert Jeffrey mit einer ganz anders gearteten, keineswegs mehr pubertär zurückhaltenden Vorstellung von Sexualität: Fast vom ersten Augenblick strahlt die Sängerin erotische Aggressivität aus. Im Nachtclub tritt sie im tiefausgeschnittenen Abendkleid auf; in ihrem Appartement zeigt sie sich dann dem geheimen Beobachter - wenn auch unwissend - fast nackt. In dieser Situation offenbart sich der noch immer infantile Status Jeffreys: Sein erotisches Interesse an der geheimnisvollen Dorothy Vallens ist noch nicht völlig konkretisiert und beschränkt sich zunächst auf den voyeuristischen Standpunkt, die Augenlust. Wie in den Filmen Hitchcocks - namentlich Das Fenster zum Hof - gerät der Voyeur aus seiner vermeintlich sicheren, weil unerkannten Position plötzlich mitten hinein in die Gefahr. Als Dorothy Jeffrey in dem Wandschrank entdeckt, macht sie sich ihn sich umstandslos und wie selbstverständlich mit einem großen Messer sexuell gefügig; eine Gefügigkeit, die sie wenig später dann selbst an den Tag legt, als sie von Frank Booth vergewaltigt wird. Entsetzt erlebt der unbedarfte Jeffrey mit, wie obsessiv sich zügellose Sexualität und Gewalt in der Umgebung Dorothys vermengen. Diese Obsessivität springt schließlich auch auf ihn über. In einer der rätselhaftesten Szenen des Films schlafen Jeffrey und Dorothy miteinander - eine Zeitlupenaufnahme, die mit einem monströsen, tiefen Brüllen unterlegt ist. Danach verliert Jeffrey erstmals die Kontrolle und schlägt seine geheimnisvolle Geliebte - ein Ungeheuer, so legt das Bild nahe, ist in ihm erwacht. Wie groß diese Gefahr für ihn bereits geworden ist, erkennt Jeffrey durch das Zusammentreffen mit Frank Booth. Das innere Erzählgefüge des Films weist Frank jene Rolle zu, der Jeffrey zu entkommen sucht - er ist durch seinen sexuellen Infantilismus schließlich zum pathologischen Fall und damit zur Bedrohung für alle Beteiligten geworden. Indem Jeffrey die Verfolgung des mysteriösen Mannes aufnimmt, stellt er sich jener Form infantiler und darum gewalttätiger Geschichtlichkeit, die ihn auch selber bedroht.« (Hans-Joachim Neumann in: Enzyklopädie des phantastischen Films).

»Die Sequenz in Dorothy Vallens' Apartment ist dermaßen komplex, daß darin natürlich noch eine Vielzahl weiterer Themen entdeckt werden kann. Vor allem die verschiedenen ödipalen Konstellationen in Blue Velvet sind nicht zu übersehen: Jeffrey kehrt am Anfang des Films nach Lumberton zurück, um im Haus und im Geschäft den Platz des Vaters einzunehmen; Frank ›kastriert‹ Dorothys Ehemann Don, indem er ihm ein Ohr abschneidet, und setzt sich selbst an seine Stelle; Jeffrey übernimmt die Rolle des abwesenden Sohnes, der mit der ›Mutter‹ schläft und den ›Vater‹ (Frank) am Ende erschießt; aber auch Frank (›Baby wants to fuck‹) sieht sich für Momente als Dorothys Kind, er ist gleichzeitig Don und Little Donny (man beachte die gleichen Vornamen) und sagt an einer Stelle zu Jeffrey: ›Wir sind beide gleich.‹ Am Tage erscheint Jeffrey das, was er in Dorothys Wohnung erlebt hat, buchstäblich wie ein böser Traum: Wie in einem Traum ist er abwechselnd Beobachter und Beteiligter gewesen, wie in einem Traum hat er seine geheimsten Wünsche ausgelebt, wenn er nackt von Dorothy liebkost wird und sie liebkosen darf, und wie in einem Traum hat Frank die dunklen Seiten von Jeffreys eigener Seele verkörpert.« (Robert Fischer, David Lynch).

»Im Folgenden fällt der Film denn auch immer spürbar ab, wenn sich der relativ aufgesetzte Krimiplot in den Vordergrund drängt und die zugrundeliegende Geschichte der sexuellen Initiation Jeffreys ins Hintertreffen gerät. Als Gangster ist die Gestalt des Frank Boom weitgehend unergiebig und kommt nicht über die gewohnten Klischees des Genres hinaus; als Psychopath aber erscheint er als verzerrter Doppelgänger, als Spiegelbild Jeffreys, das den jungen Mann trotz zunehmender Gefahr nahezu unwiderstehlich anzieht. In einer der Schlüsselstellen des Films verschleppt Frank Jeffrey zuerst in ein abseitiges Bordell voller fetter Frauen, um ihn dann auf einem offenen Feld vor der Stadt langwierig zu küssen wobei er ihm das ganze Gesicht verschmiert. Danach schlägt er Jeffrey zusammen: Die größte Nähe zum anderen Ich, zum Doppelgänger, bedeutet zugleich auch die größte Gefahr. Erst als Franks latente Brutalität schließlich offen in Mord entartet, kann sich Jeffrey endlich auch von der Bedrohung befreien. Indem Jeffrey, der ein letztes Mal im Wandschrank die vermeintliche Sicherheit der voyeuristischcn Position eingenommen hat, Frank erschießt, hat er endlich auch zu sich gefunden und kehrt, befreit von seinen destruktiven Obsessionen, zu Sandy zurück. Offen bleibt allerdings, ob es Jeffrey wirklich gelungen ist, den Frank Booth in sich für immer zu bannen.« (Hans-Joachim Neumann in: Enzyklopädie des phantastischen Films).

David Lynch hatte zunächst Bedenken gehabt, die Rolle des Frank Booth mit Dennis Hopper zu besetzen; zwar war auch ihm klar, daß Hopper die Idealbesetzung wäre, aber er fürchtete sich etwas vor dem als schwierig geltenden Schauspieler. Hopper hatte inzwischen das Drehbuch gelesen und war völlig begeistert. Der Regisseur bekam noch größere Angst - er war sich nicht sicher, ob er der Figur, die er selbst geschaffen hatte, überhaupt begegnen wollte. Dann berichtete ihm jemand von dem »neuen« Dennis Hopper: Er sei vollkommen clean, rühre nicht einmal mehr Alkohol oder Zigaretten an, und am Set seiner letzten Filme habe er sich als absolut konzentriert, kooperativ und loyal erwiesen. Lynch war beruhigt, und Hopper spielte sich vor der Kamera das Herz aus dem Leib. Dennis Hoppers Interpretation des Frank Booth ist eine Tour de force, die selbst im Werk dieses genialen Schauspielers ihresgleichen sucht, und Hoppers größte Leistung ist es, hinter dem pausenlos fluchenden, schlagenden und mordenden Unhold tatsächlich noch so etwas wie Verzweiflung und Sehnsucht nach Liebe durchscheinen zu lassen. Beim World Film Festival 1986 in Montreal wurde er dafür als bester Darsteller ausgezeichnet.

»Kaum ein Kritiker ist auf die Idee gekommen, Blue Velvet als Allegorie auf die Verbreitung von AIDS zu betrachten. Als dem Regisseur doch einmal in einem Interview die Frage gestellt wurde, ob Dorothys Satz ›He put his disease in me‹ sich auf AIDS bezöge, antwortete Lynch mit einem ausweichenden: ›Es kann sich auf alles mögliche beziehen.‹ Dabei wirkt Frank natürlich wie der prototypische AIDS-Infizierte, besser: das verzerrte Abbild davon, wie sich das amerikanische Publikum eine mit AIDS infizierte Person vorstellt. Sein Sexualleben ist alles andere als normal, sein Samt-Fetischismus und seine infantil-brutalen Spiele erinnern an S&M-Praktiken. Er verwendet äußerst eigenartige Drogen und handelt auch damit, und er ist tief in schwere Verbrechen verwickelt. Frank ist zwar ein Amalgam von Typen aus Filmen sowohl der fünfziger Jahre (der James Dean/Marion Brando-Rebell) als auch der sechziger Jahre (Hoppers eigener Easy Rider), aber dieser neue Frank frönt einer perversen Neigung zu psychischen, sexuellen und chemischen Exzessen. Trotzdem ist es eher unwahrscheinlich, daß die Allegorie bewußt ist. Die Idee zu Blue Velvet kam David Lynch ja bereits 1980, die ersten Artikel über AIDS erschienen 1981.« (Robert Fischer, David Lynch).

Blue Velvet zählt zu den Filmen, die man entweder vollkommen ablehnt oder enthusiastisch begrüßt. Gleichgültigkeit gegenüber diesen massiven Attacken auf das konventionelle Erzählkino Hollywoods wäre die größte Beleidigung. Vor allem die lange Szene zwischen Dorothy und Frank brachte dem Film den Vorwurf ein, die Würde der Frau zu verletzen und ein misogynes, nur die Polarität Heilige oder Hure kennendes Frauenbild zu zeichnen. »Blauer Samt ist nur ein Stück Stoff, schillernd, auf modische Art zerknittert, ein wenig schäbig. Erst wenn die Phantasie losgelassen wird, kann er seine Metamorphosen entfalten. Dann läßt er sich verheißungsvoll wallend in einen Theatervorhang verwandeln oder mit einem Hauch von verkommener Traurigkeit in einen Schlager aus den fünfziger Jahren hüllen oder gar zum Fetisch machen, einem abgerissenen Stoff-Fetzen, der sado-masochistische Liebesspiele zu Todesritualen steigert. Der Verwandlungsspielraum des Materials trifft sich mit der Bedeutungsbreite der Farbe Blau: sie steht für das Introvertierte, Schwermütige, Ängstliche, Mutlose, Unanständige. In seinem Film Blue Velvet schöpft David Lynch das vorgefundene Reservoir voll aus, ohne die Herkunft dieser blauen Farbtupfer zu verleugnen: aus dem Tal der künstlichen Tränen. It`s a strange world, heißt das Losungswort - eine seltsam fremde Welt bis zuletzt. Warum sich das unbedingt in der herbeigeträumten Kleinstadtidylle von Lynchs Jugend oder auch in den fünfziger Jahren abspielen muß, ist wohl allein den pubertären Moden unserer Zeit zuzurechen. Das Maß zeitkritischer Distanz überzeugt nicht. Übrig bleibt allein das Gewicht obsessioneller Schaulust die spektakulär und spekulativ bedient wird. Dem Geheimnis auf der Spur, das damals noch Sexualität hieß - insoweit stimmt die Neugierde des jungen Jeffrey, aber dann verliert sich die Geschichte genüßlich in einem erotischen Tagtraum. Die als Anreiz dienenden verrätselten Versatzstücke werden nur als Suspense-Träger benutzt, vor allem aber, um das Böse in Gestalt des gewalttätigen Frank einzuführen. Seine polymorph-perverse Liebespraxis, die aus der Voyeurperspektive Jeffreys beobachtet wird, erscheint als tierisch, erniedrigend, abstoßend. Der Kennerblick der achtziger Jahre vermischt sich auf merkwürdige Weise mit dem naiven Verständnis der fünfziger. Denn die unbegrenzte Begierde wird zugleich der strengen Zensur der Verteufelung unterworfen. Was sich so ungehemmt dem voyeuristischen Blick darbietet, wird schell wieder stigmatisiert. Die Gesetzlosigkeit, die sich in erotischen Entgrenzungen zu entfalten droht, wird gleich mit Wertungen gebannt. Lynch versteht es, mit solchen Verlockungen ins Verbotene zu verwirren, die dadurch noch gesteigert werden, daß die ganze Geschichte mit symbolhaft überfrachteten Bildern und mit erotischen Bildern arbeitet, sich ganz jene Stimmungen zu eigen macht, die einer fetischierten Phantasie entspringen. Die vielleicht beabsichtigte und manchmal spürbare Ironie scheitert an der Künstlichkeit der Bilder, an der Beharrlichkeit der Klischees und an der unterschwellig fühlbaren naiven Sehnsucht nach den einfachen Seelenzuständen der fünfziger Jahre. Mit dieser modisch gefragten Mischung ist der Film Blue Velvet selbst ein zu kostbarer Konsumfetisch, als daß er noch Fragen jenseits es Lustprinzips aufwerfen könnte.« (Marli Feldvoss, FAZ)

»David Lynch arbeitet nicht nur meisterhaft mit Bildern, sondern auch mit Bedeutungen und filmischen Codes. Er spielt und jongliert mit ihnen, bis ein Gefühl menschenverachtender Kälte zurückbleibt. Blue Velvet ist Kunstgewerbe - zwar meisterhaft in Szene gesetzt, letztlich aber ein Film, der die Frage, warum uns diese Geschichte gezeigt wird, nicht beantworten kann.« (Ortwin Thal, Medien+Erziehung).

Die feministische Filmemacherin Lizzie Borden allerdings ergriff in einem Artikel für The Village Voice uneingeschränkt für Lynchs Film Partei: »Für mich ist Blue Velvet einer der beeindruckendsten und intelligentesten Filme der letzten Jahre. Was mich am meisten überrascht, ist der Vorwurf, der Film enthalte einige besonders blutrünstige Szenen. Die grotesken Dinge in Blue Velvet - das abgetrennte Ohr, auf dem Ameisen herumkrabbeln, ein Toter, dem ein Ohr fehlt und der mit blauem Samt geknebelt wurde - werden eher auf klinische als auf blutspritzende Weise präsentiert. Das ist Dali und Bunuel, nicht Cronenberg oder Peckinpah. Ich vermute, daß die Leute sich eigentlich über die sexuelle Gewalt aufregen - über die sadomasochistischen Praktiken, die der Film untersucht. Lynch gelingt es auf geniale Weise, uns den gefährlichen Thrill von verbotenem Sex erfahren zulassen. Das Erstaunliche an der Szene, in der Jeffrey Dorothy schlägt, ist die Vielfalt an Emotionen, die dieser Moment in ihm - und in uns - auslöst.« Während selbst eine hartgesottene Kritikerin wie Pauline Kael unumwunden zugab, von Blue Velvet in »erotische Trance« versetzt worden zu sein, entschied sich das Festival von Venedig - in Person des Direktors Gianluigi Rondi - für die totale Ablehnung und wollte Blue Velvet nicht zeigen, weil er angeblich das Ansehen des großen Roberto Rossellini beschmutze. Dabei hatte sich Isabella Rossellini, die angebliche Beschmutzerin, natürlich nichts vorzuwerfen; sie war mit Recht stolz auf ihre Leistung und stand voll und ganz hinter dem Film und seinem Regisseur: »David Lynch nahm meine Schönheit und entdeckte etwas Komisches darin und sogar etwas Abstoßendes. Das faszinierte mich. Ich mag es. als Schauspielerin meine Bandbreite zu erweitern, und dabei hat David mir wirklich geholfen. Kein Regisseur hat bisher mehr aus mir herausgeholt. Man wird sofort von Davids Begeisterung angesteckt. Man fühlt, daß man es bei ihm mit einem ganz besonderen Menschen zu tun hat, der ein vollkommen unkompliziertes Leben führt, damit er sich in aller Ruhe seinen Visionen widmen kann.«

»Isabella Rossellini wirkt so lebendig wie eine Wachsfigur. Dennis Hopper sieht aus, als käme er aus einer Retorte. Die Hauptdarsteller sind Klone. Die Handlung ist irreal. Nichts an diesem Film ist echt, alles ist synthetisch. Wie blauer Samt. Die verdrängten Träume eines Jahrzehnts bringt Blue Velvet ans Licht. Auf einmal sehen wir, daß die schönen Frauen große Messer ziehen und die Freaks zurückschlagen. Die alten Songs von Roy Orbison locken in eine Vergangenheit, die mit der Gegenwart noch längst nicht abgerechnet hat. Demütigungen, Atemnot, Gewalt. Nichts ist vergessen. Alles ist irgendwo gespeichert. Und alles kommt wieder. David Lynch sieht aus wie ein Pastor, aber er hat den Teufel im Leib. Seine Filme sind der reinste Exorzismus. Auch weil sie dem Sein den Schein austreiben. Blue Velvet ist wie ein Pickel auf dem Gesicht des amerikanischen Kinos.« (Michael Althen, Tempo).



Academy Awards, USA
Jahr
  Kategorie/Preisträger
1987
Oscar
Beste Regie - David Lynch (Nominierung)
 
Golden Globes, USA
Jahr
  Kategorie/Preisträger
1987
Golden Globe
Bester Nebendarsteller - Dennis Hopper (Nominierung)
Bestes Drehbuch - David Lynch (Nominierung)
 


 
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Frank Arnold in: zitty, 5/1987; Helmut W. Banz in: Kölner Stadtanzeiger, 28.3.1987; Betsy Berry in: Literature/Film Quarterly, 2/1988; Doris Blum in: FR, 12.2. 1987; Richard Corliss in: Film Comment, 6/1986; Horst Esser in: medien+erziehung, 3/1987; Franz Everschor in: film-dienst, 4/1987; Marli Feldvoss in: FAZ, 13.2.1987; Hans-Juergen Fink in: Rheinischer Merkur, 6.2.1987; Antonio Gattoni in: Zoom, 4/1987; Norbert Grob in: Die Zeit, 13.2.1987; Hellmuth Karasek in: Der Spiegel, 7/1987; Danielle Krüger in: Kieler Nachrichten, 6.2. 1987; Heike Kühn in: FR, 12.2. 1987; Stephen Locke in: epd Film 2/1987; J.F. Maxfield in: Post Script, 3/1989; Kenneth Pellow in: Literature/Film Quarterly, 3/1990; Janet Preston in: Literature/Film Quarterly, 3/1988; Carla Rhode in: Der Tagesspiegel, 7.3.1987; Georg Seeßlen/Christian Rost in: epd Film, 2/1987; Claudius Seidl in: SZ, 13.2.1987; Ortwin Thal in: medien+erziehung, 3/1987; Jörg von Uthmann in: FAZ, 13.11.1986

Cinema Nr.105 (2/1987), S.14 ; Nr.107 (4/1987), Plakatkarte; Nr.160 (9/1991), S.69

Faulstich, Werner/Vogel, Andreas: Sex&Gewalt, Bardowick 1991

Fischer, Robert: David Lynch (Heyne Filmbibliothek), München 1992

Heinzlmeier, Adolf/Schulz, Berndt: Kultfilme (Cinema-Buch), Hamburg 1989

Hofmann, Wilhelm: Filmwelten, Weiden 1993

Kaleta, Kenneth C.: David Lynch, New York 1993

Kerkhoff, Ingrid/Rodenberg, Hans-Peter (Hrsg.): Leinwandträume, Hamburg 1991

Koebner, Thomas (Hrsg.): Filmklassiker, Stuttgart/Leipzig 1995

Müller, Jürgen: Filme der 80er, Köln 2002

Rost, Andreas (Hrsg.): Bilder der Gewalt, Frankfurt a.M. 1994

Schnelle, Frank: Blue Velvet (Retro Filmprogramm), Stuttgart 1992

Seeßlen, Georg: David Lynch und seine Filme, Berlin 1994

Stresau, Norbert/Wimmer, Heinrich(Hrsg.): Enzyklopädie des phantastischen Films, Meitingen 1986ff