Ein andalusischer Hund




Technisches
Land
 
F
Jahr
 
1928
Länge
 
20 min. (504/430 m)
Farbe
 
s/w
Tonverfahren
 
stumm
Format
 
35 mm (1.33:1)
Fantasy
Avantgarde


Credits
Regie   Luis Buñuel
Drehbuch   Luis Buñuel, Salvador Dali
Kamera   Albert Duverger
Schnitt   Luis Buñuel
Musik   Wagner, Beethoven, argentinische
    Tangos(Fassung von 1960);
    Mauricio Kagel (Fassung von 1983)
Ausstattung   Pierre Schildknecht
Produktion   Luis Buñuel
Verleih   atlas (16mm), Die Lupe


Erstaufführung
Kinostart
F
06.06.1929
       
TV-Premiere
D
10.11.1968, NDR3
     
DVD
USA 28.12.2004 (Facets, Collector's Edition)


Einspielergebnisse

?



Darsteller
Pierre Batcheff   (der Mann)
Simone Mareuil   (die junge Frau)
Luis Buñuel   (Mann mit Rasiermesser)
Salvador Dali   (Priester)
Jaime Miravilles   (Prieser)


Inhalt

Der wohl berühmteste Prolog der Filmgeschichte: Ein Mann schärft des Nachts sein Rasiermesser in der Nähe eines Balkons. Der Mann betrachtet durch die Fensterscheiben den Himmel und sieht... Eine leichte Wolke, die sich dem vollen Mond nähert. Dann der Kopf eines Mädchens mit weitaufgesperrten Augen. Eine Rasierklinge bewegt sich auf eines dieser Augen zu. Die leichte Wolke zieht jetzt am Mond vorüber. Die Rasierklinge fährt durch das Auge des Mädchens und schneidet es entzwei. Gelatine quillt aus.

Nach dem Prolog - 8 Jahre später. Ein Fahrradfahrer fährt freihändig durch eine Straßenschlucht, auf der Brust eine Schachtel mit diagonalen schwarzen und weißen Streifen. Irgendein Zimmer in einem dritten Stockwerk dieser Straße. In der Mitte ein Mädchen, ein Buch lesend, horcht auf, geht ans Fenster, sieht nach unten. Radfahrer hält an, kippt unvermittelt zur Seite in Dreckhaufen, erstarrt in der Kipplage. Mädchen kommt aus dem Haus, küßt Daliegenden stürmisch... Dasselbe Zimmer: Das Mädchen sitzt am Bett - in der Haltung von jemand, der die Totenwache hält. Sie dreht sich um, sieht männliche Gestalt, die mit großer Aufmerksamkeit etwas in der rechten Hand betrachtet. Die Frau kommt näher und betrachtet die Hand. Aus deren Mitte wimmeln Ameisen aus einem schwarzen Loch hervor. Überblendung. Achselhaar eines Mädchens. Überblendung. Seeigel, dessen Stacheln sich bewegen. Überblendung. Kopf eines anderen Mädchens. Öffnen der Blende. Mädchen inmitten einer Gruppe von Personen, die eine von Polizisten errichtete Absperrung durchbrechen wollen. Mädchen versucht mit einem Stock eine am Boden liegende abgetrennte Hand, deren Fingernägel lackiert sind, aufzuheben. Ein Polizist redet ungehalten auf sie ein, bückt sich, hebt die Hand auf, legt sie in die diagonal gestreifte Schachtel des Radfahrers, überreicht sie dem Mädchen, grüßt militärisch. Die Menge verläuft sich. Musik scheint in der Luft zu liegen. Die beiden Gestalten im dritten Stockwerk, die die Szene beobachtet haben, wiegen die Köpfe hin und her, als folgten sie dem Rhythmus dieser unfaßbaren Musik. Das Mädchen unten auf der Straße ist wie gelähmt. Es wird von einem Auto, das sich in schwindelerregender Fahrt näherte, überfahren und verstümmelt. Oben verfolgt der Mann das Mädchen. Er faßt ihr an die Brüste, die plötzlich zu Hinterbacken werden...Das Mädchen, jetzt bekleidet, weicht zurück bis in eine Ecke, verschanzt sich geradezu hinter einem Lehnstuhl, betrachtet entsetzt das Treiben des Verfolgers. Doch dieser schleppt mit großer Anstrengung zwei Seile hinter sich her. Er kommt einfach nicht weiter, denn an den Seilen hängt Hemmendes: eine Korkplatte, eine Melone, zwei Geistliche (vielleicht Priester, vielleicht Klosterschüler), dann zwei Konzertflügel, auf denen verwesende Eselskadaver liegen... Viel später verwandeln sich Bücher in der Hand des Mädchens in Revolver. Tödlich verletzt fällt der Mann zu Boden, nicht im Zimmer, sondern im Park. Er versucht im Fallen, die nackten Schultern einer Frau zu berühren... Später oder früher? Ein Schmetterling in Großaufnahme. Der Mund des Mannes verschwindet. Ersatz geben die Achselhaare der Frau. Die Frau geht ins Nachbarzimmer an den Strand. Die Wellen spülen die gestreifte Schachtel und das Fahrrad an Land. Männliche Gestalt und Frau gehen am Strand entlang. Szenenwechsel - derselbe Strand? In der Mitte stehen, bis zur Brust im Sand versunken, die Gestalt und das Mädchen, beide blind, in verschlissener Kleidung, zerfressen von Sonnenstrahlen und einem Insektenschwarm.



Kritik

»Buñuels Ein andalusischer Hund gilt als der erste surrealistische Film. Die Gruppe der Surrealisten hatte sich Mitte der Zwanziger Jahre in Paris um ihren Anführer André Breton und Louis Aragon gebildet. Unter dem Einfluß der Psychoanalyse Freuds beschäftigte sich die Gruppe vornehmlich in der Literatur und bildenden Kunst mit der »surrealité«, der Überwirklichkeit, die aus dem Unbewußten schöpft, die ohne Kontrolle durch die Vernunft in einem rein psychischen Automatismus in Schrift oder Bild festgehalten werden sollte. Nur jenseits der Logik glaubte man, Wahrheit zu finden. Die Bewegung, zu deren Mitgliedern neben den oben genannten (zeitweise) u.a. auch die Schriftsteller Paul Eluard und Antonin Artaud und die Künstler Max Ernst, Hans Arp, Jean Miró und Giorgio de Chirico zählten, drohte sich in politischen Querelen aufzureiben, bis durch Salvador Dali Ende des Jahrzehnt ein neuer Aufschwung verzeichnet werden konnte. Dali lehnte jedoch den Automatismus und den Traum als passive Geisteszustände ab und propagierte den im Alltag ausgelebten Wahnsinn.« (Hahn/Jansen, Das neue Lexikon des Fantasy-Films). Er wollte »alle Wünsche, Sehnsüchte und Begierden aller Menschen in skandalöser Weise in die Welt einschleusen, hineinschmuggeln, der Welt aufdrängen.« (Maurice Nadeau, Geschichte des Surrealismus). Gefordert ist der Schock, die wichtigste Waffe des Surrealismus.

So stimmt dann auch der Prolog »auf das ein, was der sich anschließende Film - und, wenn man will, große Teile des Werks Buñuels überhaupt - erwarten läßt: Beunruhigung, Irritation, Schock. Doch der Skandal, den der Prolog, den der ganze Film meinte und der in ihm angelegt war, ist heute konsumierbar geworden, ein Stück Klassik, eine Erinnerung an alte Zeiten, in denen die Zerstörungen, die einer auf der Leinwand anrichtete, das Publikum noch verschrecken mochten. Die Grausamkeiten, die uns dieses Jahrhundert bescherte, haben den Schnitt durchs Auge, haben die Diskrepanzen und Disharmonien, die Buñuel in seinem Debüt arrangierte, vergleichsweise harmlos gemacht, zu obskuren Einfällen, die von einer ungleich disharmonischeren Wirklichkeit längst überholt wurden. Freilich beruhen die Verstörungen, die der Film beabsichtigte, keineswegs nur auf einer in einzelnen Bildern und Sequenzen sich ausstellenden, den gutbürgerlichen Kunstgeschmack verhöhnenden Häßlichkeit. Ein andalusischer Hund ist ein Film der Opposition: gegen die bürgerliche Kunst, und damit gegen die Wirklichkeit, die diese Kunst meint. Der erste Schritt dieser Opposition ist die Weigerung, im Film, in der Kunst Geschichten zu erzählen. Buñuel setzt die Spielregeln einer bürgerlichen Dramaturgie außer Kraft: die Erwartung, daß jede Szene auf der vorangegangenen Szene aufbaut, mit ihr in einem logischen, einem rationalen Zusammenhang steht; die Erwartung, daß sich die Kunst nach den Regeln des Lebens ordnen müsse. Diese Anstrengung, erst einmal die aus der konventionellen Kunst gewohnten Zusammenhänge, Abfolgen und Regeln zertrümmern zu müssen, ist dem Film anzumerken. Ein zweiter Schritt der Opposition erklärt Gegenstände zum Objekt der Kunst, die bis dahin nicht als kunstwürdig galten: Ameisen, die über einen Hand laufen; Esel-Kadaver auf einem Flügel. Das Prinzip der Montage dieser Gegenstände und Motive ist das von den Surrealisten benützte Prinzip, Dinge aus ihrer gewohnten Umgebung zu reißen und in neue, teilweise provokante Zusammenhänge zu bringen. Dennoch: das Kästchen, das den Film hindurch immer wieder, leitmotivisch fast, auftaucht, ist ein Kästchen, es ist leer und sinnlos, kein Symbol, nichts. Was einige Gegenstände und Handlungen zusätzlich auszeichnet, ist eine Verkehrung der Norm, ist die Anti-Phrase: der Radfahrer steigt am Ende nicht ab, wie das normal wäre, er hört einfach auf weiterzufahren, und fällt prompt in den Dreck. In einem dritten Schritt seiner Opposition greift Buñuel eine in der Gesellschaft verankerte Idee der Liebe auf. Ein Mann und eine Frau sind im Zentrum des Films. Sie machen verschiedene Metamorphosen durch, die zuweilen durch Zwischentitel gekennzeichnet sind. Ihre Beziehung zueinander hat verschiedene Stadien: der zärtlichen Zuneigung (als er, der Radfahrer, stürzt, eilt sie aus der Wohnung zu ihm und küßt ihn liebevoll); der Begierde (er faßt an ihre Brüste, die im nächsten Bild nackt erscheinen), der angedeuteten sexuellen Raserei. Hier scheint fragmentarisch ein Motiv auf, das für Das goldene Zeitalter bestimmend wird: der amour fou, die alle denkbaren Grenzen sprengende, aber nie realisierbare Liebe. Die relativ komplizierte Struktur des Films ist heute verständlich geworden, lesbar. Auch dem Schock, der Provokation sind wir nicht mehr hilflos ausgeliefert: wir erklären sie hinweg. So ist Ein andalusischer Hund heute in ersten Linie das Dokument einer historischen Revolte der Kunst gegen die Kunst.« (Klaus Eder in: Peter W. Jansen/Wolfram Schütte (Hrsg.), Buñuel).

Dali und Buñuel erarbeiteten binnen einer Woche das Drehbuch »nach einer sehr einfachen Regel..., für die wir uns in voller Übereinstimmung entschieden hatten: keine Idee, kein Bild zuzulassen, zu dem es eine rationale, psychologische oder kulturelle Erklärung gäbe; die Tore des Irrationalen weit zu öffnen; nur Bilder zuzulassen, die sich aufdrängten, ohne in Erfahrung bringen zu wollen, warum.« (Luis Buñuel, Mein letzter Seufzer). »Obwohl der Film insgesamt nur rund 20 Minuten lang ist, birst er gleichsam vor Ideenreichtum. Trotz Buñuels eindeutiger Warnung, nichts in dem Film symbolisiere irgend etwas (wie es in dem Vorspanntext des Films heißt), haben sich natürlich Generationen daran gemacht, Film bzw. Filmteile zu interpretieren. Die ›Seil‹-Szene bot sich dazu in besonderem Maße an: Die Liebe (das ungestüme Anrennen des Mannes) und die Sexualität (die Melone) seien gefesselt durch die religiösen Vorurteile (die zwei Geistlichen) und die stinkende bürgerliche Erziehung (die Flügel mit den Eselskadavern). Wie dem auch sei! Buñuel hatte bei der Vorführung seines Films im Kreise der Surrealisten gegen seine Erwartung großen Erfolg, er wurde endgültig in die Gruppe aufgenommen. Wie er in seinen Memoiren Mein letzter Seufzer zu berichten weiß, war dieser ›surrealistische‹ Erfolg jedoch nicht von langer Dauer. Grund waren die anderen Erfolge, die sich beim allgemeinen Publikum einstellten: ›Vierzig- oder fünfzigmal wurde ich angezeigt, die Leute gingen zur Polizei und verlangten, diesen obszönen und grausamen Film zu verbieten. Es war der Anfang einer langen Reihe von Beschimpfungen und Drohungen, die mich bis ins Alter verfolgt haben. Es kam während der Vorführungen sogar zu zwei Fehlgeburten, aber der Film wurde nicht verboten.‹ Es kam aber auch zu rechtsextremistischen Protestmärschen, was die Surrealisten jedoch nicht gestört hätte, hätte es nicht diesen außergewöhnlichen kommerziellen Erfolg gegeben. Konnte ein Werk noch schockieren, wenn es Kasse machte? Buñuel bot an, den Film öffentlich zu verbrennen. Dazu kam es dann doch nicht mehr. Die Tage des surrealistischen Film in seiner reinsten Form waren schon gezählt. Buñuel drehte noch Das goldene Zeitalter, Jean Cocteau fand mit Das Blut eines Dichters den Weg zum Traum-Surrealismus und zur Poesie. Die Einführung des Tonfilms brachte eine Verteuerung der Produktionskosten in erheblichem Maße mit sich, so daß die experimentelle Filmarbeit in Europa fast zum Erliegen kam. Buñuel und die meisten anderen surrealistischen Regisseure verlegten sich auf Dokumentarfilme, die nur noch zum Teil surrealistische Inhalte hatten. Emigration und Kriegsdienst ließen die surrealistische Bewegung dann endgültig 1939 zerfallen. Viele, darunter Breton, Dali und Buñuel, gingen nach Amerika.« (Hahn/Jansen, Das neue Lexikon des Fantasy-Films).



Auszeichnungen

-



Bewertung


Literatur

Faulstich, Werner/Korte, Helmut (Hrsg.): Fischer Filmgeschichte Bd. 1925-1944, Frankfurt a.M. 1991

Gould, Michael: Surrealism and the Cinema, London/New York 1976

Hahn, Ronald M./Jansen, Volker: Das neue Lexikon des Fantasy-Films, Berlin 2001

Heinzlmeier, Adolf/Schulz, Berndt: Kultfilme (Cinema-Buch), Hamburg 1989

Jansen, Peter W./Schütte, Wolfram (Hrsg.): Buñuel (Hanser Reihe Film Bd.6), München/Wien 1980

Koebner, Thomas (Hrsg.): Filmklassiker, Stuttgart/Leipzig 1995

Link-Heer, Ursula/Volker Roloff (Hrsg.): Luis Buñuel, Darmstadt 1994

Stresau, Norbert/Wimmer, Heinrich(Hrsg.): Enzyklopädie des phantastischen Films, Meitingen 1986ff



Weblinks

IMDB

Das Dokument des Grauens: Un Chien Andalou