Wild At Heart


Wild At Heart


Technisches
Land
 
USA
Jahr
 
1990
Länge
 
127 min. (3402 m)
Farbe
 
color
Tonverfahren
 
Dolby SR
Format
 
35 mm (2.35:1)
Krimi
Thriller
Erotik


Regie   David Lynch
Drehbuch   David Lynch
Literaturvorlage   Barry Gifford
Kamera   Frederick Elmes
Spezialeffekte   Don Domeyer, Don Power
Schnitt   Duwayne Dunham
Musik   Angelo Badalamenti, Richard Strauß
Ton   Jon Huck, John Wentworth, Tom Myers,
    Richard Hyams (Schnitt)
Prod.-Design   Patricia Norris
Kostüme   Patricia Norris, Amy Stofsky
Maske   Denise Dellavalle, Louis Lazzara, David B.
    Miller, Michelle Buhler (Make-up), Fríða
    Aradóttir (Frisuren)
Stunts   Jeff Smolek
Produktion   Steve Golin, Sigurjon Sighvatsson für Lara
    Films/Propaganda Productions
Verleih   Senator, Marketing (Video)


Kinostart
USA
  17.08.1990
D
  Filmfest München 1990 (Kinostart: 20.9.1990)
       
Videostart
D
  20.02.1991
       
TV-Premiere
D
  04.05.1992, Premiere
       
DVD
USA
  07.12.2004 (MGM Home Entertainment)
D
  15.05.2003 (Universal)
D
  16.02.2006 (Universal, Collector's Edition)


 
USA
  14560247 $
 
D
 
2539844 €; 586364 Zuschauer


Nicolas Cage   (Sailor Ripley)
Laura Dern   (Lula Pace Fortune)
Diane Ladd   (Marietta Pace)
William Dafoe   (Bobby Peru)
Isabella Rossellini   (Perdita Durango)
Harry Dean Stanton   (Johnnie Farragut)
Crispin Glover   (Dell)
Grace Zabriskie   (Juana)
J.E. Freeman   (Marcello Santos)
W. Morgan Shepherd   (Mr.Reindeer)
Bellina Logan   (Beany Thorn)
Glenn Walker Harris jr.   (Pace Roscoe)


Weil er in Notwehr einen Farbigen getötet hat, wandert Sailor Ripley für einige Jahre ins Gefängnis. Seine Freundin Lula bleibt ihm gegen den Willen ihrer Mutter treu; sie holt ihn bei seiner Entlassung ab, und beide fahren in Richtung Kalifornien. Lulas Mutter, die Sailor selbst vergeblich Avancen gemacht hatte und die außerdem befürchtet, durch Sailor werde Lula erfahren, daß ihr Vater bei einem Mordkomplott zwischen seiner Frau und dem Gangster Marcello Santos zum Opfer gefallen ist, schickt den beiden ihren alten Freund Johnnie als Racheengel nach. Doch dann bittet sie Santos, nicht nur Sailor, sondern auch Johnnie aus dem Weg zu räumen. Johnnie bleibt tatsächlich in New Orleans auf der Strecke; die Liebenden kommen bis in ein texanisches Wüstenkaff, wo Santos Killer Bobby Peru sie ausfindig macht. Er demütigt Lula und überredet Sailor zu einem Überfall, bei dem er ihn erschießen will. Aber zufällig taucht die Polizei auf, und dann heißt das Opfer des Überfalls Bobby Peru. Allerdings muß Sailor als Mittäter erneut ins Gefängnis. Und wieder steht Lula, die ihm inzwischen einen Sohn geboren hat, bei seiner Entlassung am Gefängnistor. Sailor will auf sie verzichten, läuft fort und wird von einer Straßengang verprügelt. Als er verletzt auf der Straße liegt, hat er eine Erscheinung: Eine wunderschöne, engelhafte Frau schickt ihn geradewegs in Lulas Arme und ins Happy-End.

 


Nicht erst mit dem Gewinn der Goldenen Palme 1990 für Wild At Heart spaltete der amerikanische Regisseur David Lynch seine Zuschauer in zwei Lager. Die einen bewundern seine visuelle Radikalität, seinen Mut zur Provokation; die einen verdammen sein Kino als die Ausgeburt eines verqueren Hirns und als schwer erträgliche Geschmacklosigkeit. Und so wurde in der deutschen Presse dann auch mit Hohn und Spott nicht gespart: »Wild At Heart ist eine der verrücktesten Liebesgeschichten der letzten Jahre: wild, melodramatisch, auf exzessive Weise kitschig, gleichzeitig aber auch voller Gewalt und geradezu lustvoll bei der Schilderung physischer und psychischer Abnormitäten. Eben ein Film von David Lynch. Lynch fordert radikale Reaktionen geradezu heraus: entweder man liebt seine obskuren Einfälle oder man zieht sich angewidert zurück. Dazwischen gibt es wenig Raum für andere Gefühle. Nun kann ein Film, der den Hauptpreis von Cannes erhielt, selbst bei einer gebührlichen Relativierung der Bedeutung von Festspielpreisen, kaum einfach nur schlecht sein. Immerhin ist es Lynch gelungen, beträchtliche Emotionen und erhebliche sprachliche Anstrengungen auszulösen - und wo Leidenschaften im Spiel sind, ist aufregendes Kino oft nicht weit entfernt! Auf Wild At Heart trifft dies meiner Meinung nach allerdings nur bedingt zu. Kino, das emotionalisiert, ist noch lange kein Kino der neuen Emotionen und selbst bei wohlwollender Betrachtung ist Lynchs Film kaum mehr als eine Splatter-Movie-Version des Wizard Of Oz! Was mich an Lynchs Film stört, ist die postmodernistische Unverbindlichkeit, mit der alles Mögliche wahllos vermischt wird. In Lynchs Welt ist beispielsweise auch der Witz nur eine Variante des Schocks. So kriechen, nachdem Sailor und Bobby Peru eine Bank überfallen haben, zwei Bankangestellte in ihren Blutlachen herum und suchen eine abgeschossene Hand. Während der eine den anderen damit tröstet, daß alles wieder angenäht werden kann, zeigt die nächste Einstellung einen Hund, der mit der Hand im Maul davonläuft. Vor der Bank schießt sich gleichzeitig der in die Enge getriebene Bobby Peru höhnisch grinsend mit einer Schrotflinte den Kopf von den Schultern. Lynch erzählt seine Geschichten, um schmerzhafte Bilder zu zeigen. Zweifellos hat er dabei eine autonome Bildersprache mit einer beeindruckenden visuellen Präsenz entwickelt. Daß sich aber hier das Kino der neunziger vorstellt, ist unwahrscheinlich. Und bei mehrfacher Betrachtung von Wild At Heart kann man sich sogar einem zunehmenden Gefühl der Albernheit nicht entziehen. Gäbe es nicht die Bilder unkontrollierter Gewalt, wäre Wild At Heart der zu Zelluloid geronnene Kitsch par excellence. Der Lynchsche Horror hat keine enthüllenden Funktionen: ein wenig Wizard Of Oz, eine Spur de Sade - Kitsch und Geschmacklosigkeiten ergeben eben noch keine Nouvelle Vague. (Ortwin Thal, Medien+Erziehung).

»Wild At Heart sieht so aus, als hätte ein pickeliger Student eine strukturalistisch angehauchte Magisterarbeit über das Lebenswerk David Lynchs geschrieben, Lynch sie in die Hände bekommen und mit seiner Hilfe Wild At Heart gedreht. An diesem Film ist nichts neu, alles ist eine in die Länge gezogene Abhandlung zum Thema ›Was war toll an Blue Velvet?‹. Also sieht man geschlagene zwei Stunden lang Feuer in allen Variationen; von der glimmenden Zigarette über das aufflammende Zündholz bis zum ausgewachsenen Buschfeuer. Das hat natürlich seinen Grund. Lulas Papa wurde nämlich im Auftrag der ruchlosen Ehefrau abgefackelt, und ihr geliebter Sailor fuhr dabei den Wagen der Erfüllungsgehilfen. Die Schwiegermutter in spe fürchtet, daß er plaudert, seit er mit ihrer Tochter zusammen ist, und trachtet ihm nach dem Leben. Das ist auch schon alles, dazwischen flackert es unentwegt, und wilde Tiere brüllen sich im Off die Seele aus dem Leib. Blue Velvet eben, nur einen Zacken schärfer, noch mal mit Pepp für alle, die es damals nicht mitbekommen haben. Wild At Heart ist die ewige Wiederkehr des Gleichen, düstere Untiefen der menschlichen Seele in bekannten Bildern: Fungierte der blutrote Lippenstift in Blue Velvet noch als zaghaftes Symbol für die Verquickung von Schmerz und Sex, wenn Dennis Hopper sein Opfer damit malträtierte, bevor es Prügel bezog, so schmiert sich die Spinne Marietta in Wild At Heart gleich von Kinn bis zum Scheitel damit zu, als sei sie in der Seamstraße. Und nicht genug damit: Harry Dean Stanton muß sich von der behinderten Killerin auch nochmal schminken lassen, bevor er ins Gras beißt. Zugegeben: Keiner versteht so gut wie David Lynch, die Ikonen der populären Kultur durch bloße Huldigung zu diffamieren. Laura Dern ist eine Augenweide, die Inkarnation des Vamps aus dem Wendehammer, das Kleid kürzer als der Gürtel, die Tittchen immer optimal im Bild, die Hinterbacken zucken wie Froschschenkel, sie stöckelt über blutrünstige Tatorte als stolziere sie über die Dorfkirmes. Und erst Nicolas Cage: Lynch kitzelt aus ihm die ganze epochale Debilität einer noch einmal auf die Schwarte Elvis Presley fixierten Generation heraus. Nur möchte Lynch gefälligst auch von der Zuneigung der Youngster profitieren, wenn er schon mit einem schnieken Couple aufwartet. Also wird das Klischee erst kräftig entzaubert, um dann wieder inthronisiert zu werden. Sailor und Lula fahren ins Glück, mit einem Filius wie aus der Milupa-Werbung. Lynch fällt hinter seine eigene Leistung zurück, aber die Sympathie des jungen und des sich für jung haltenden Publikums ist ihm sicher. Nichts ist langweiliger, als den Leuten nach dem Mund zu filmen. Auch was den Drall seiner Deformationen angeht, möchte Lynch mittlerweile den Applaus von der falschen Seite. Genügte ihm früher ein fauliges Ohr im Gras, um den ganzen Film am Kochen zu halten, müssen heute Köpfe großkalibrig gegen Hauswände knallen, gerät ihm eine harmlose Notwehr- zum Blutrausch mit Gehirngarnitur und sind seine Road-Runner gezwungen, zwischen langatmigen Sentenzen über den Verlust der Eltern öfter mal anzuhalten, um drastisch drapierte Unfallopfer zu begutachten. Der dezente Horror ist Lynch nicht mehr zugkräftig genug, derb muß es sein, damit das Blut auch in die letzte Reihe spritzt. Wild At Heart ist eine Gebetsmühle psychoanalytischer Standardsymbole, der Film funktioniert wie ein auf der Stelle tretender Repetierapparat: immer wieder die gleichen Erinnerungen, dann eingeschnitten, wenn der Dialog in der Sackgasse steckt: Feuer und Flamme, schlimme Fratzen, die Farbe Rot im Gesicht und am Kostüm, der Teufel guckt um die Ecke, die Unschuld schüttelt sich. Natürlich werden die Aficionados des amerikanischen Kinos sich nicht einkriegen vor Entzücken und dieses Kopfnicken als ein Zitat des späten John Ford oder jenen Schnitt als typische Finte des modernen Action-Kinos identifizieren. Mal ganz abgesehen davon, daß im Kino unentwegt genickt und geschnitten wird, so fügt Lynch weder dem gängigen Repertoire etwas Neues hinzu, noch gelingt es ihm, das Déjà-vu-Karussell mit einem Qualitätssprung zu stoppen. So bleibt sein Wild At Heart bei aller Anhänglichkeit an die jüngste Filmgeschichte ein Kompendium abgestandener Kineme. Lynch hat mit seinem Leporello auch nur bei Gleichgesinnten Erfolg. Wer im Kino mehr sieht als eine Abfragemaschine für blutarme Kinomanen, wird den Schlagschatten an Realität vermissen, den auch die Parodie und die Reminiszenz brauchen, um glaubwürdig zu sein. David Lynch ist mit Wild At Heart sein eigener Epigone geworden. (Wolfgang Brenner, Tip Filmjahrbuch Nr.5).

Trotz dieser kritischer Stimmen erlagen aber auch viele Kritiker dem visuellen Reichtum von Wild At Heart und sahen in diesem Film einen Ausweg für das in Konventionen verharrende US-Kino der achtziger Jahre. »Lynch setzt mit viel Erfolg auf assoziative, suggestionsstarke Bilder: Emotionen werden zu Flammenwänden, Gewalt mit geradezu gerichtsmedizinischer Detailfreude bis über die Grenze des Erträglichen ausgelebt, und wenn Lula mit Sailor im Bett liegt, spielt nicht nur die Perspektive verrückt. Lynch gewinnt zusammen mit seinem Kameramann Frederick Elmes der Realität unerwartete, schockierende Bilder ab, die er ebenso unerwartet schneidet: Halbtotalen gegen riesige Makroaufnahmen, komplizierte Kamerafahrten, schnelle Schnittfolgen. Zusammen mit der verfremdend ästhetisierenden Beleuchtung (etwa dem Licht der untergehenden Abendsonne) erreicht er die Ultra-Wirklichkeit von Werbespots, in der die Welt längst in handliche, hübsche und verführerische Klischees zerlegt ist. Das riecht nach Marlboro, wenn auf wilden Sex der entspannte Griff zur Zigarette folgt; ganze Südstaaten-Dörfer scheinen nur für eine Whisky-Werbung gebaut; da laufen Jeans-Typen herum und Ray-Ban-Sonnenbrillen-Träger. Die Highways sind frei für Cadillacs, die Wüste flimmert wie für Coke-Reklame, die Disco-Szenen erinnern an Musik-Videos. Lynch macht sich auch im Erzählen, zugegeben perfekt, die zerstückelnde Sichtweise der Werbefilmer zu eigen, indem er kleinste Episoden zeigt. Vielleicht ist Wild At Heart der erste Film so ganz im Zeitgeist der neunziger Jahre: ein postmodern geklittertes Bildermärchen aus schillernden, verlogenen Versatzstücken einer unbegreifbaren Konsumwelt, die ihren Sinn längst verloren zu haben glaubt. Nur die Teenies träumen unbelehrbar weiter von Lederjacken, Disco, Freiheit und der großen Liebe.« (Hans Jürgen Fink, Rheinischer Merkur).

Lynch zeichnet übertriebene Charaktere, deren Reaktionen ebenso - bis zur Farce - übertrieben scheinen. Gewalt wird deshalb bei ihm zu dem absurden und erschreckenden Bestandteil, als der sie sich auch in der Realität findet. Wie fasziniert verharrt die Kamera auf den verfaulten Zahnstümpfen von Bobby Peru, fette alte Frauen tanzen nackt auf der Straße des Wüstenkaffs, bei dem Banküberfall schießt sich Bobby Peru buchstäblich den Kopf ab, ein Hund rennt mit der abgeschossenen Hand eines der Opfer davon. Aber auch der Alltag selbst ist gewalttätig. Mehrmals werden schreckliche Verkehrsunfälle gezeigt, bei denen die Menschen in ihrem Blut liegen. Hinzu kommen Kamera- und Montagetechnik: selbst ein in Nahaufnahme entzündetes Streichholz wirkt durch Nähe und explosionsartiges Anreißgeräusch bedrohlich. Sexualität dampft bei ihm den Schweiß der Leidenschaft und hat den Charakter physischer Hörigkeit, nicht sentimentaler Romantik. Deutlich sind auch die Hinweise auf den märchenhaften Charakter des Films: Mehrfach sieht man Lulas Mutter als Hexe auf dem Besenstiel die Liebenden verfolgen, und am Schluß werden Sailor und Lula offenbar von einer guten Fee zusammengeführt. Dann verschwindet, wie von Zauberhand berührt, das Bild von Lulas Mutter aus dem Bilderrahmen; die Liebe hat über allen Haß und Schrecken dieser Welt gesiegt.

»Sailor ist Elvis Presley, Marlon Brando und James Dean, Lula ist Baby Doll und Marilyn Monroe, und beide sind nichts als stilisierte Pose, reproduziertes Abbild, kunstfertiges Zitat - Zombies einer kommerzialisierten Protestkultur. Hinter der reproduzierten Geste lauert die Sprachlosigkeit, die eigene Geschichte läßt sich nur noch als Verweis auf eine Zigarettenmarke erzählen. Das macht Sailor und Lula zu postmodernen Helden, das verbindet Lynch mit Godard. Das eben fordert Ablehnung, Schrecken, Zustimmung heraus: daß es kein Jenseits der Zeichen mehr gibt, daß Wild At Heart eine Geschichte inszeniert, die lange schon stattfindet, daß die medial codierte Wirklichkeit des Films eben doch vom Realen, von unseren Erfahrungsmustern erzählt. Nur in einem Moment der Stille, wenn ein traumatisiertes Unfallopfer ritualisierte Gesten wiederholt, der infizierte Geist den destruierten Körper verläßt, erleben wir die Auflösung einer Individualität. Diesen Anblick können Sailor und Lula nicht ertragen; in der Welt der medialen Mythen bleibt kein Ort für gelebte Authentizität.« (Jürgen Felix in: Koebner (Hrsg.), Filmklassiker).

»In Cannes schüttelten sich deutsche Kritiker vor Abscheu und Wut über Wild At Heart und beschworen altväterlich die letzten Bastionen von Sitte und gutem Geschmack, während ihre jungen Kollegen das Opus genauso bierernst als ein Jahrzehnt-Meisterwerk anhimmelten. Der wilde Lynch und sein exzentrischer Film attackieren Rezeptionsgewohnheiten, Distanz, eingefahrene Kriterien. Große Verwirrung, überkandidelte Urteile, ein Grenzfall. Ein Märchen, Roadmovie, Thriller, Psychodrama, eine Lovestory, eine gewalttätige Komödie - Lynchs Selbstannoncen sind so verwirrend wie die Textur des Films. Genauso kann man sagen: Melodrama, Satire, postmodernes Assoziations-Puzzle, surreale Medienreflexion, Comic strip. Der Film hat von allem etwas, ist grell, morbide, phantasievoll, frech, voll wüster Übertreibungen, bombastischem Kitsch, ekligen Gewaltorgien, magischen Bildern. Es gibt anspruchsvolle Symbole, überstrapazierte Leitmotive, Längen, unnötige Wiederholungen. Lynch setzt extrem knapp montierte Zwischenbilder, die oft nur ein Wort im Dialog illustrieren, neben lange, gefühlige Zweierszenen. Romantische Schwermut neben hitzigem Sex, Horror-Junk und Hollywood-Trash neben hochkarätigem Grand Guignol. Ein intelligenter Spaß. Sailor und Lula zünden sich Zigaretten an, Großaufnahme, es zischt und kracht wie bei Explosionen, halb Tusch, halb Warnsignal: Achtung, schlimme Erinnerungen. Sailor und die Verfolger als Spiegelung in einer Glaskugel, in den Händen der Hexe: Magie, Voodoo, Märchenspuk, fauler Zauber en gros. Am Wegesrand, quer durch den Film, lauter Freaks, Verrückte, Perverse, Psychopathen, skurrile Cameos, Bilderbuchschurken, laszives Höllengelichter: Eine Prozession beunruhigender Chimären und Lemuren, ein Trip durch eine Geisterbahn, mal dekadente Endzeit-Schauermär, mal ironischer Klamauk. Aber alles so sinnlich, elektrisierend, befremdlich, anders, daß die Spannung, die Faszination, die Kino-Verzauberung nie aussetzt. Kamera, Schnitt, Musik und genauso die Dramaturgie von Tönen, Farben, Licht und Dunkel (schrille Pizzicato-Fetzen, giftige Rot-, Lila- und Gelb-Töne, diabolische Schwärze im Fackelschein für die schwarzen Engel, weiche Pastellschleier und sentimental. Melodien für Liebesglück und kurze, unbeschwerte Phasen), all das ist virtuos eingesetzt, mit spielerischer Freiheit. Die Darsteller: outriert, stilisiert, typisiert wie Comic-Figuren (mit Sätzen wie Phrasen in Mundblasen), dann wieder ganz normal, nachvollziehbar. Die böse Mutter (Diane Ladd) eine Megäre mit verzerrter Fratze, gespreizten Krallen, geilen Posen, verlogenem Gehätschel, ihre Tochter (Laura Dern, Ladds tatsächliche Tochter) ähnlich vulgär, Kaugummi schmatzend, von ungehemmter physischer Direktheit, Sailor (Nicolas Cage) animalisch wild, reizbar, aber auch supercooler Macker, romantischer Liebhaber. Starauftritte: Isabella Rossellini ist ein somnambules Flittchen, Harry Dean Stanton ein bekümmerter, verliebter, alter Trottel, Crispin Glover ein interessanter Geisteskranker, Willem Dafoe das ultimative Scheusal. Das Schlangenleder-Sakko, sagt Sailor einmal, ›ist ein Ausdruck meiner Persönlichkeit‹, und er meint das. Kurz darauf schmachtet Cage ein Elvis-Lied und grinst unverhohlen in die Kamera; kurz, aber deutliche Brüche, Perspektiven-Verschiebungen, eine reizvolle Gratwanderung zwischen Verfremdung und kulinarischem Realismus. Das Paar hat Szenen von naivem Pathos und anrührender Ernsthaftigkeit, die sich von ihrem synthetischen, stilisierten Ambiente abheben. Zwei unkomplizierte Teenager, ihre Bedürfnisse, Wünsche, Ängste, Träume, sehr einfach, ganz ernstgenommen. Sie sind wie ausgesetzt, bedroht. Eine große Traurigkeit ist um sie, nachts auf den Straßen. Aber ständig wetterleuchtet die satirische Doppelbödigkeit in solche Stimmungen, läßt Harmonie und Gefühl nicht zu. Lynchs kühner, anspruchsvoller Entwurf, nicht immer ganz eingelöst, hebt ihn über alles, was derzeit aus Hollywood kommt: Eine Melange aus Gefühligkeit und ironischer Distanzierung, von Unterhaltungskino und Kino-Reflexion, von Romanze, Medienkommentar und nachdenklichen zeitkritischen Apercus. Einmal dringt der Unhold Dafoe in Lulas Zimmer ein, setzt ihr mit brutaler, schleimiger Geilheit zu, bis sie schwach wird, dann läßt er die Gedemütigte triumphierend grinsend stehen. Ähnlich funktioniert das Wechselbad der Realitätsebenen im Film. Wir gehen einer attraktiven Offerte auf den Leim und sind im nächsten Moment einer Kritik der Mechanismen und etablierten Muster von Kinorezeption ausgesetzt. Und beides bereitet Vergnügen. Daß es um mehr als die Geschichte von Sailor und Lula geht, wird deutlich genug. Filmtitel im Dialog, Filmzitate (Hitchcock, Fellini, Godard, Greenaway, Arizona Junior), Märchen- und Fantasy-Elemente von drei fetten, nackten Nonnen oder einer guten Fee als veritabler Himmelserscheinung bis zur bösen Mutter als Brockenhexe, die auf dem Besenstiel durch die Nacht jagt. Ein Ritualmord als Hexensabbat könnte absurder schwarzer Humor sein, eine Reminiszenz ans Theater der Grausamkeit, sarkastische Paraphrase auf US-Trivialmythen. Lynch wirbelt Bilder, Bedeutungen, Bezüge salopp durcheinander, jongliert mit unseren hergebrachten Orientierungsversuchen. Die große Liebe, Bonnie und Clyde, ein Kinomärchen; zwei arglose Jugendliche unterwegs in finsterer Zeit, in einer Welt brutaler Maniaks, schauriger Verkehrsunfälle, des unüberbietbaren Real-Horrors in Radio und TV; ›Elvis und Marilyn in der Hölle‹ (Cage); der akute hypertrophe Medienzirkus, Brutalität, Porno-Industrie, B-Pictures, Rock- und Jugendkultur. Diese Bezugsebenen sind selten sauber getrennt, aber man kann sie nicht als spekulative Effekte abtun. Erregen sich die Kritiker, die das Lynch-Pandämonium in Cannes verabscheuten, noch über das tägliche TV-Gesülze, über Tausende obszöner Gewaltvideos, über die beleidigende Dämlichkeit der Superstars Schwarzenegger oder Stallone? Lynchs Film handelt davon. Und auch von ihnen, auch vom Publikum. (Wolf Donner, Tip Filmjahrbuch Nr. 5)

»Aber Wild At Heart ist kein Skandalfilm, sondern der Anfang eines neuen Erzählens. Und wie immer, wenn der dem Kino verordnete Realismus ins Wanken gerät sind die Verkünder der Moral zur Stelle, um das Unerwartete und Ungeheure, das ihren Maßstäben den Boden ausschlägt, wie ein Gespenst zu verscheuchen. Die gespaltenen, blut- und farbverschmierten, schreienden, blinden und sprachlosen Köpfe des David Lynch aber schauen uns an, als wäre es endlich Zeit, mit dem Denken zu beginnen. Jetzt oder nie. Die Geschichte, die Wild At Heart erzählt, könnte aus einem Teenagerdrama der fünfziger Jahre stammen. Barry Gifford, der Autor der Romanvorlage, hat ein braves Jugendmärchen geschrieben. Lynch macht daraus eine amerikanische Apokalypse, eine Fahrt ins Totenreich. Giffords Roman ist eine reichlich konventionelle Variation des Mythos vom American way of life. Lynchs Wild At Heart aber ist der schlimmste, verzweifeltste Angriff auf diesen Mythos, den es seit den Filmen von John Cassavettes gegeben hat. Lynchs Obsession ist, wie die des frühen Godard, der Film als Gesamtkunstwerk - und als Kritik seiner selbst: Bilder und Töne, die miteinander kämpfen, statt einer Story zu dienen; Szenen, die aus Gegensätzen komponiert, von Gegensätzen zerrissen sind. Also Ironie statt Zynismus; Unschuld statt Sentimentalität. Die Liebenden bei Lynch sind, wie in Godards Außer Atem oder in i>Pierrot Le Fou, vollkommen isoliert; sie reden viel, manchmal direkt in die Kamera, manchmal haarscharf an ihr vorbei, doch immer wie zu sich selbst; sie schwimmen in einer Blase aus Glück, und um sie herum ist die Hölle, die Welt. Aus dem Glas einer Wahrsagerin werden ihre Schicksale gelesen, die böse Hexe des Ostens jagt im Nachtwind hinter ihnen her, und in ihrer schwärzesten Stunde erscheint ihnen die gute Fee, der Engel der Auferstehung und der Fernseh-Werbespots, am Himmel über dem Asphalt.: Die Zeit, in der Wild At Heart spielt, ist die Endzeit, die Stunde des Feuers. Das Feuer ist überall in diesem Film; in den Streichhölzern, die in Nahaufnahme auf der Leinwand explodieren; in dem brennenden Haus, das den Vater Lulas verschlingt; in den Farbtönen der Lippenstifte und des Nagellacks, in den Farben des Sonnenuntergangs. Es brennt in den Liedern der Nachtklubsängerinnen, es glüht auf den Zigarettenspitzen, es springt aus den Mündungen der Revolver in den Kopf. Das Feuer steckt in den Bildern, mit denen Lynch die Orgasmen des Liebespaares aufnimmt, rot, gelb und weiß; und in den Rhythmen, die den Film bewegen, den panischen Schlägen des Rock und den weicheren, dunkleren Takten des Soul. Daß der Film nicht mit einer Explosion aufhört, sondern mit einem Lied ist ein Wunder. Aber Lynch möchte, daß wir an Wunder glauben. Wer Wild At Heart zynisch nennt, hat nicht einfach Lynchs Film anders gesehen: Er hat einen anderen Film gesehen. Wild At Heart ist der Film, mit dem das Kino der neunziger Jahre begonnen hat: ein Kino der Träume, nicht des faden, ausgewogenen Realismus; ein Kino der Intensitäten, nicht der Stoffe; ein Kino der Verzweiflung, nicht der edlen Melancholie. Das ist auch eine Frage der Moral. Und der Wahrhaftigkeit. (Andreas Kilb, Die Zeit).

»Wild At Heart ist stellen- und streckenweise unausgegoren und - auch innerhalb seines selbstgeschaffenen Kontextes - überzogen bis weit jenseits der Grenze des auch für Wohlwollende Erträglichen. Damit legt er selbst das Fundament, an dem Kritiker ein gigantisches Rundumschlagskonstrukt aus Häme und Vernichtung hochziehen können. Das macht ihn so angreifbar. Wild At Heart ist im Ganzen gesehen der brachiale Versuch, mit allen filmischen Mitteln über die Bestandsaufnahme einer aus den Fugen geratenen Welt hinaus Raum für Utopie zu schaffen. Die Bestandsaufnahme als Horrorshow, die Utopie als Märchen verschmelzen zu einem (Alp)-Traumspektakel, dessen Bilder sich tief in die Erinnerung einbrennen. Das macht ihn so kostbar.« (Heike-Melba Fendel, EPD Film).

»Wild At Heart it mit seiner düsteren und surrealen Geschichte, den ungewöhnlichen Bildmontagen und Kameraperspektiven sowie der eindringlichen Musik ein typischer Lynch-Film. Im Rückblick wirkt er aber zugleich wie ein früher Vorläufer jener neuen Form des Autorenfilms, die durch Regisseure wie Quentin Tarantino ein Massenpublikum erreichte: ein zitierfreudiges Kino, in dem sich die Grenzen zwischen Massengeschmack und Subkultur auflösen, eine bunte Mischung aus eigenen Ideenund der Kolportage von Trash-Motiven und Genre-Versatzstücken.« (Jürgen Müller, Filme der 80er).



Academy Awards, USA
Jahr
  Kategorie/Preisträger
1991
Oscar
Beste Nebendarstellerin - Diane Ladd (Nominierung)
 
British Academy Awards, UK
Jahr   Kategorie/Preisträger
1991
British Academy Award
Bester Ton - Randy Thom, Richard Hymns, Jon Huck, David Parker (Nominierung)
 
Filmfestival Cannes, Frankreich
Jahr   Kategorie/Preisträger
1990
Goldene Palme
Goldene Palme - David Lynch
 
Golden Globes, USA
Jahr
  Kategorie/Preisträger
1991
Golden Globe
Beste Nebendarstellerin - Diane Ladd (Nominierung)
 


 
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Heike Melba Fendel in: epd Film, 9/1990; Fritz Göttler in: SZ, 20.9.1990; Reinhold Jacobi in: film-dienst, 19/1990; Andreas Kilb in: Die Zeit, 21.9.1990; Verena Lueken in: FAZ, 21.9.1990; Ponkie in: AZ, 20.9.1990; Wolfram Schütte in: FR, 20.9.1990; Hans-Dieter Seidel in: FAZ, 22.5.1990

Cinema Nr.148 (9/1990), S.74; Nr.149 (10/1990), Plakatkarte

Faulstich, Werner/Korte, Helmut (Hrsg.): Fischer Filmgeschichte Bd.5 1977 1995 (Fischer Cinema), Frankfurt a.M. 1995

Fischer, Robert: David Lynch (Heyne Filmbibliothek), München 1992

Müller, Jürgen: Filme der 80er, Köln 2002

Seeßlen, Georg: David Lynch und seine Filme, Berlin 1994

Stresau, Norbert/Wimmer, Heinrich(Hrsg.): Enzyklopädie des phantastischen Films, Meitingen 1986ff